Über einen Vogel

Das erste Problem ist, dass ich diesen Text mit dem Titel „Über einen Vogel“ sehr gern mit den Worten „Gott sei Dank! Seit gestern ist alles vorbei!“ beginnen würde, mir dies jedoch wegen des „Gott sei Dank“ irgendwie unpassend erscheint.

 

Tatsache ist zwar, dass ich mich befreit und wie erlöst fühle und dankbar bin für diese Erlösung und nun jemandem danken möchte. Es ist nur niemand da und ich bräuchte eigentlich auch nicht dankbar zu sein.

 

Dennoch: es ist etwas passiert, für das niemand verantwortlich zu sein schien außer Faktoren, die mein Verstand, weil ihm nichts anderes einfällt, gern als Zufall, Schicksal oder Gott bezeichnen möchte. daher auch das „Gott sei Dank“, worüber ich nun im Zweifel bin, mich aber an dieser Stelle kurzentschlossen mit mir selber einige auf den Begriff  „Natur“, und zwar in physikalischer, chemischer, biologischer oder auch spiritueller Hinsicht.

 

Das zweite Problem ist die Tatsache, dass „Vogel“ ein Begriff mit männlichem Artikel ist, viele Vogelarten aber einen weiblichen oder sächlichen Artikel haben, zum Beispiel: die Meise, die Krähe, das Rotkehlchen, die Bachstelze oder die Nachtigall.

Will man allein über einen männlichen Vogel schreiben, dessen Artenname einen weiblichen Artikel hat, gerät man zwangsläufig in gewisse Umständlichkeiten, weil man nun Komposita wie z.B. das Nachtigallmännchen oder der Nachtigallmann oder der Nachtigallhahn oder das Nachtigallhähnchen benutzen muss. Oder hört es sich gut und richtig an, wenn ich sage: „Die Nachtigall flötete schon seit zehn Nächten. Sie wollte ein Weibchen anlocken.“? Nun weiß zwar jeder, was ich damit meine, trotzdem wäre es zumindest grammatisch nicht falsch, daraus zu schließen, dass diese flötende Nachtigall lesbisch ist, wenn sie ein Weibchen anlocken will.

 

Diese  zwei Probleme behindern mich seit Tagen, aber am hinderlichsten ist doch das dritte Problem:  jeden meiner Versuche, den Gesang eines Vogels mit Worten zu beschreiben, empfinde ich als durch und durch ungenügend und niederschmetternd.

Ich finde nicht, dass eine Krähe krächzt, ein Spatz tschilpt oder eine Nachtigall schluchzt, ebenso wenig wie ein Frosch quakt oder eine Schlange zischt.

Natürlich sehe ich ein, dass bestimmte Dinge vereinfacht werden sollten, um sich im Alltag schnell verständigen zu können, damit, wie schon vorher erwähnt, jeder weiß, was gemeint ist.

Im Fall von Vögeln also die Töne, die diese von sich geben und die jeder, der nicht taub oder schwerhörig ist, schon gehört hat.

Ein Spatzenton ist noch relativ einfach, denn meistens besteht er nur aus einem oder zwei kurzen Tönen.

Aber eine Nachtigall, genauer gesagt: die Töne eines Nachtigallmanns?

 

Ich gestehe nun: ich habe in 21 Nächten meinen Kopf mit geschlossenen Augen aus dem Fenster hängen lassen und den Tönen eines Nachtigallmanns gelauscht, der ein Weibchen anlocken wollte.

 

Meine erste Begegnung mit dem Gesang – oder soll ich besser sagen: Konzert oder Vortrag oder…..? – geschah morgens um 3.30 Uhr. Zu dieser Zeit stehe ich wochentags auf, um den Tag mit Yoga zu beginnen.

Gewöhnlich öffne ich zuerst das Fenster, um frische Luft hereinzulassen – an diesem Morgen aber ließ ich dazu noch Töne herein, die mich verblüfft aufhorchen ließen.

Ich bin keine Vogelkennerin, aber ich dachte sofort an eine Nachtigall, als ich das hörte, wegen der ungewöhnlichen Zeit.

Es war der letzte Montag im April und noch völlig dunkel. Kein Vogelton weit und breit, aber aus den Bäumen eines nahegelegenen kleinen Parks erklang ein mit heller, klarer und kraftvoller Stimme vorgetragenes Zwitschern, Gurren, Zirpen, Pfeifen, Gurgeln, Quietschen, Schnalzen, Brodeln, Schnarren, Trillern, Blubbern, Schnattern – kurz, eine so unglaubliche Vielfalt an Klängen und Tönen, dass ich am liebsten für diesen Morgen auf den Yoga verzichtet hätte, um diesen abwechslungsreichen und spannenden musikalischen Vortrag in Ruhe weiter anzuhören.

 

Ich bin ein ziemlich disziplinierter Mensch, ich machte meine Yogaübungen und bemühte mich um Konzentration. Trotzdem öffnete ich zwischendurch immer wieder das Fenster, um mich zu vergewissern, dass der Vogel noch sang.

Als ich schließlich um sieben Uhr das Haus verließ, sang er immer noch.

 

Ab diesem Morgen verfolgte ich, soweit mir das möglich war, Beginn und Ende seines Gesangs. In den ersten zwei Wochen begann er mit ziemlicher Pünktlichkeit etwa abends um elf und sang bis in den späten Vormittag hinein mit nicht endenwollender Kraft. Zwölf Stunden. Ich wachte nachts um zwei Uhr auf und lauschte aus dem Fenster – der Vogel sang. Ich wachte danach um vier Uhr auf und lauschte aus dem Fenster – der Vogel sang. Aß oder trank er zwischendurch etwas? Ich vermute nicht, denn Singen und Essen gleichzeitig können Vögel wahrscheinlich genauso wenig wie Menschen.

An zwei Wochenenden setzte ich mich um acht Uhr in den Park, ergötzte mich aus nächster Nähe an seinen einfallsreichen Klangkombinationen, versuchte diese zu analysieren  und trug mühselig Worte zusammen, um eine angemessene Beschreibung hinzukriegen.

Das Ergebnis lautet folgendermaßen - immer in melodiösen Tonsequenzen von 1-3 Sekunden Dauer gedacht, die hell, entschlossen und kraftvoll klingen:

3 ziehende pfeifartige, drei trillernde zwitscherartige, kurzer Abschlussschnalzer  – 5 hohe pfeifartige, 3 zwitscherartige, kurzer Abschlussflöter – 1 grummelartiger,1 schneller zwitscherartiger, Abschlussquietscher  -  1 kehliger brodelartiger, 5 hohe ziepartige, Abschlusszwitscherer  – 3 helle quietschartige, mehrmalige heftige schnalzartige mit Abschlussschnalzer  – 1 langgezogener brodelnder kehlartiger,5 hohe flötenartige, Abschlusstriller – 6 trällernde schnarrartige mit Abschlussschnarrer – dieser kurze Auszug aus meiner Sammlung sollte ausreichend sein, um zu beweisen, dass eine Beschreibung nicht unbedingt zu einer realistischen Vorstellung führen muss.

Im Übrigen kann man sich stundenlang Nachtigallenvideos auf youtube anhören.

 

Abgesehen von diesen kläglichen Versuchen tat mir aber die energetische Kraft seiner Stimme  richtiggehend gut und ich dachte, wenn ich jetzt ein Nachtigallweibchen wäre, dann wäre ich der Faszination seines Gesangs schon längst auf den Leim gegangen wie eine Fliege einer dieser klebrigen Fliegenfängerrollen, die es heute wahrscheinlich nicht mehr gibt.

 

Ich kann mir zwar vorstellen, dass eine Nachtigallfrau  andere Kriterien hat für die Beurteilung des männlichen Gesangs als ich – aber nach zwei Wochen fand ich, dass er nun endlich eine Belohnung für seine Bemühungen verdient hätte.

Meine Faszination wich allmählich einer gewissen Erschütterung über diese Unermüdlichkeit. Ich begann mir Sorgen zu machen: was geschähe, wenn sich keine Frau für ihn entschiede?

Ich öffnete abends um elf  Uhr das Fenster und hörte ihn dort in der Dunkelheit singen. Ich sah ihn dabei immer auf dem gleichen Ast sitzen und tapfer seine Tiraden tirilieren. Ich wurde traurig. Das arme, einsame Tier!

 

Man sollte einiges über Nachtigallen wissen, um solche Anwandlungen zu vermeiden. Folgendes habe ich gelesen: Die Nachtigallen sind einzelgängerische Zugvögel. Sie fliegen den weiten Weg von und zurück nach Afrika alleine und nachts! Dabei fühlen sie sich vielleicht sogar wohl und überhaupt nicht einsam!

 

Ich blieb trotzdem traurig. Der arme Nachtigallmann! Zwei Wochen unglaublicher Bemühungen vielleicht umsonst! Was geht denn dann in einem Tier vor?

 

Dann bemerkte ich einige kleine Veränderungen. Er hörte früher, etwa um sechs Uhr morgens, mit dem Singen auf. Zwischen den einzelnen Etüden, die sonst im Sekundentakt aufeinanderfolgten,  entstanden längere Pausen. Manchmal gab er nur kurze, kleine Töne von sich. Was ging dort vor sich? Natürlich werde ich das nie wissen. Nach 21 Tagen, in der Nacht von Mittwoch zu Donnerstag, erwachte ich um drei Uhr und öffnete das Fenster. Die Stille, die ich hörte, löste ein tiefes Einatmen bei mir aus.

„Gott sei Dank“, dachte ich spontan, „er hat eine gefunden“, und ich fühlte mich befreit und wie erlöst.

Ich habe nämlich auch gelesen: unmittelbar nach der Paarung stellt der Nachtigallmann seinen Gesang ein.

Ich hoffe noch immer nur das Beste für ihn.

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