Im öffentlichen Nahverkehr

Die Frau mit dem Hütchen

 

Ich saß im TXLer, der vom Flughafen Tegel zum Alexanderplatz fährt und entdeckte sie erst, als ich schon längere Zeit im Bus saß.

Ich saß also im Bus, sah geradeaus, wie immer vermutlich ohne wirklich etwas zu sehen und wie immer dachte ich vermutlich irgendetwas. 

Dann blickte ich nach links.

Dort fiel mein Blick auf ein kleines Hütchen, das seitlich am Kopf einer Frau haftete.

Es war rund und aus leuchtend hellem Stroh geflochten, der Durchmesser mag ca. 5-6 cm betragen haben. Ein kleines Sommerhütchen mit einer grün umrandeten Krempe, verziert mit einer rot-schwarz-grün karierten Schleife über dem unteren Bogen.

Das Hütchen saß auf zwar gewaschenem, jedoch ungepflegt wirkendem, grauem Haar, direkt seitlich über dem rechten Ohr und ragte dort wie eine helle Warze vom runden Kopf der Frau ab.

Ich unterdrückte zunächst einen augenblicklich auftretenden, drängenden Lachreiz und dachte stattdessen Vernünftiges. 

Vermutlich diente das Hütchen der Frau als Ordnungselement, denn es gab in der Funktion einer Spange einer Haarsträhne Halt, deren fransige Enden unten hervoragten.

Ich richtete den Kopf und den Blick wieder geradeaus.

"Was für eine Frau", dachte ich, betont vernünftig, "bestimmt ist sie sehr, sehr eigenwillig."

Nach einigen Minuten hielt ich es nicht mehr aus, ich sah wieder nach links.

Die Frau, ohne Hütchen, war eine pummelige, unscheinbare Person und mochte etwa 60 Jahre alt sein. Ihre Schuhe waren sportlich mit bequemen, weichen Gummisohlen, sie trug eine Jeans, einen braunen Parka mit Kapuze und hatte die grauen Haare im Nacken zu einem schütteren Schwänzchen zusammengefasst. Ihr Gesicht war rund und konturlos, fast aufgedunsen. Sie trug eine mit silbernem Metall dünn eingefasste Brille, mit fleischigen Fingern hielt sie einen braunen Lederrucksack auf dem Schoß fest. Sie sprach mit ihrer Nachbarin.

Ich betrachtete das Hütchen.

Es schien mir unfassbar. Allerdings nicht nur das Hütchen, sondern auch der Ort, an dem es saß.

Ich dachte darüber nach. Ich bemerkte, dass ich den Ort als eine Art Tabubruch empfand.

Hätte sie das Hütchen am Hinterkopf über dem Schwänzchen befestigt, ich hätte kurz hingeblickt, mich vielleicht etwas gewundert über diesen, auf mich kindlich wirkenden Haarschmuck, und es dann vergessen.

Aber so? Ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte. Sie war eine ältere, offensichtlich berufstätige Frau und hätte ohne das Hütchen vernünftig auf mich gewirkt. Aber so?

Tat sie das aus Eigenwilligkeit, Achtlosigkeit oder wollte sie provozieren?

Am Karlsplatz stiegen sie und ihre Nachbarin aus und verschwanden um die nächste Ecke. Der Bus fuhr ebenfalls um diese Ecke und ich konnte daher sehen, wie sie ein Gebäude betraten, in dem sie vermutlich arbeiteten.

Diese vermutliche Arbeit beschäftigte mich erneut. Es war nicht anzunehmen, dass die Frau mit dem Hütchen angesichts der strengen Outfitregeln heutiger Personalverantwortlicher eine Stelle mit Publikumsverkehr inne hatte. Oder doch?

Ich dachte eher an eine Kantine, Küche, Wäscherei, Callcenter - kurz: an Niedriglohnbereiche, in denen es nicht so sehr auf das Aussehen ankommt. Aber auch dort gibt es Kollegen und Kolleginnen, die sich gerne lustig machen.

Wochen später ist mir die Frau, zur gleichen Zeit wie beim ersten Mal, im TXLer erneut begegnet.

Diesmal saß an der Stelle des Hütchens ein Schmetterling, filigran gearbeitet aus schwarzem Metall, direkt seitlich über dem rechten Ohr.

 

 

Der Mann mit dem kleinen Papierstapel

 

Ich stand an der Bushaltestelle am Hansaplatz in der Altonaer Straße und wartete auf den 106er Bus.

Es war Herbst und ich betrachtete die farbigen Blätter an den Bäumen. Die Sonne schien hell am wolkenlosen, blauen Himmel.

Dann fiel mir ein Mann auf, der unruhig hin und her lief, dabei laut mit sich selber sprach und ab und zu lachte, wobei er eine große Lücke im unteren Frontzahnbereich enthüllte.

Er trug einen dunkelgrauen Anzug, der modern geschnitten war und früher einmal elegant gewesen sein mochte. Jetzt war er schmutzig, mit einigen weißen Flecken besprenkelt und hatte die Fasson verloren.

Seine unbestrumpften, nackten Füße steckten in grauen Wildlederschuhen, deren Anblick eine ähnliche Entwicklung vermuten ließen wie der Anzug.

Sein schütteres Haar war rötlich und ebenso rötlich waren die Bartstoppeln, die seine Wangen und den Hals bedeckten.

Unter dem angewinkelten, linken Arm hielt er einen kleinen Stapel aus Prospekten, Briefen und anderen Papieren an die Brust gepresst, was ihm den Anschein von Geschäftigkeit verlieh.

 

Im Bus schließlich hat mich dieser Mann angesprochen und während er mich noch murmelnd zu einer Tasse Kaffee einlud, stieg er an der nächsten Haltestelle schnell wieder aus, bevor ich etwas antworten konnte.

 

Ich habe über diesen Mann nachgedacht und bin mir nun über zwei Dinge völlig sicher: erstens, dass er mich ohne den Papierstapel niemals angesprochen hätte und zweitens, dass er ohne den Papierstapel überhaupt nicht aus dem Haus gegangen wäre.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 







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